Samstag, 13. Oktober 2012

Wirsing und Sauerbraten unter Nazi-Verdacht

Angeregt durch das vortreffliche Buch Preußen- Aufstieg und Niedergang 1600-1947 von Christopher Clark hab ich mir Gedanken gemacht.
In der Einleitung des Buchs geht der Autor -natürlich- auf den Umstand ein, dass vielen (Historikern) Preußen als das Staatsgebilde gilt, dass Nazi-Deutschland erst möglich gemacht hat.
Als ich meinem Mann zu Liebe heute früh den Wochenmarkt aufsuchte, weil er sich Wirsing, Bratkartoffeln und Bratwurst wünscht (Sire, ich eile.....übrigens auch ein Büchlein zum Thema : hier die Beziehung von Voltaire zu Fritz "Ich mach das, weil ich es kann"), da kam ich ins Nachdenken.
Es gab eine Zeit in meinem Leben, da war ich jung und erstmalig politisch interessiert, auf eine bisweilen eher unkluge, gleichwohl leidenschaftliche und polarisierende Art. Es waren die 80er Jahre, und ja, da pubertierte es auch schon mal. In mir.
Äußerlich war lange nichts zu sehen, Darum setzte ich mit einer Kopfhaarrasur incl. Schnittverletzung ein Zeichen: hier ist ein junger Mensch im Umbau.
Ich stellte alles in Frage, und das war in den 80ern auch erste Bürgerpflicht. Meine Eltern waren katholisch und -wie ich erkannte- spießig. Spießig war damals anders als heute. Heute hören Spießer Tote Hosen und gehen mit ihren Kindern gemeinsam auf Feten. Damals konfiszierten meine Eltern die Tote Hosen-LP wegen Ficken, Bumsen, Blasen, alles auf dem Rasen und unsere Feten fanden ohne Eltern statt.
Meine Eltern waren so furchtbar wie alle Eltern:
sie ignorierten das Waldsterben und gingen weiterhin wandern,
sie benutzten Deo-Spraydosen (FCKW ! Diese Verbrecher ! Die von mir benutzen Farbspraydosen zum  Sprühen politischer Parolen gingen aber durch) ,
sie verboten mir Demos gegen den Nato-Doppelbeschluss (Ääätsch ! Wir taten ständig verbotene Dinge), sie waren sehr skeptisch gegenüber Gastarbeitern,
alle 68er waren RAF-Terroristen und die Grünen eine Gefahr,
nach Tschernobyl wurde meine Schultasche weiter von Atomkraft-Nein-Danke-Stickern gereinigt.
Und ins Ausland fuhren wir nie. Das wäre aber toll gewesen. Für den Liebreiz der Weingegenden an Rhein und Mosel hatte ich kein Auge - die (sicher auch heute noch hemmungslos übertriebene) Gastrogemütlichkeit alarmierte mich bis zur Stufe ROT. Das war lupenreine Deutschtümelei, und das war ....Sie ahnen es....lupenreines Nazi-Deutschland.
Meine Eltern und ihre Lebensart verkörperten für mich Deutschland. Deutschland und Nazis waren eine untrennbare Allianz. Also stand alles, ich betone: ALLES, unter Naziverdacht.
Ich verachtete herrliche deutsche Speisen wie Wirsing, dicke Bohnen, Sauerbraten, Rollbraten, Kartoffeln.
Rebellisch  zerkochte ich vegetarische Lasagnen (alle Zutaten aus der Dose) und trank dazu Lambrusco aus Flaschen mit Körbchen drum. Ich verschmähte die Bratwurst meiner Mutter und schob mir politisch korrekten Toast mit Scheiblettenkäse in den Ofen.
Spanferkel ? Nicht mit mir : Miracoli ging  gut.
Irgendwie hatte ich das Gefühl (und damals schätzte ich Gefühl ranghöher als Erkenntnis ein), dass die deutsche Hingabe an Eintopf und Schmorbraten irgendwie auch ein Wegbereiter des Nazitums gewesen war. Wie bitte ?
Ja, doch, irgendwie. Es gab eine Menge Irgendwie.
Ich wurde dann kulinarisch lockerer und politisch Wissender bzw. umgekehrt.
Heutzutage kann ich Grünkohl mit Mettwurst kochen und krieg trotzdem den Friedensnobelpreis.
Und ich setz noch eins drauf: demnächst probier ich sogar mal Saumagen.